 |  | Daniel Buren, Comme tombées du ciel, les couleurs in situ et en mouvement, 2022-2023 | |
Bahnhöfe gelten als Kathedralen der Moderne, der Mobilität und des Fortschritts. Gleichzeitig sind sie Orte des Abfahrens und des Ankommens, der Trennung und des Wiedersehens. Kurz gesagt, sind sie Schicksals- und Sehnsuchtsorte par excellence. Viele verfügen tatsächlich über markante Elemente kirchlicher Bauten. Dabei ist ihr Inneres erfüllt mit Lautsprecherdurchsagen, den Gesprächen und Rufen der Reisenden, den Pfiffen der Schaffner, dem Lärm der ein-, aus- und durchfahrenden Züge, den Rollgeräuschen der Koffer und dem lautstarken Schließen der Zugtüren. Ein großstädtischer Bahnhof lässt sich daher als komplexes Gefüge allzeit beweglicher Elemente verstehen, das Performative ist seiner DNA von vornherein eingeschrieben. Der österreichische Schriftsteller Joseph Roth beschrieb sein Verhältnis zu diesen Orten des Übergangs einmal so: „Ich könnte jahrelang zu Hause sitzen und zufrieden sein. Wenn nur nicht die Bahnhöfe wären.“ Der französische Anthropologe Marc Augé hingegen rechnet sie, wie auch Flughäfen, Autobahnkreuze, Busterminals oder Kettenhotels, zu den „Nicht-Orten“, die ob ihrer Austauschbarkeit im Gedächtnis des Reisenden keine besondere Spur hinterlassen.
Nicht so der Bahnhof Liège-Guillemins, denn der ist ein ganz besonderer Transitort: Der 2009 eröffnete Bau des spanisch-schweizerischen Architekten Santiago Calatrava gilt als wichtiger Knotenpunkt im Netz der europäischen Hochgeschwindigkeitszüge. Er wird täglich von 500 Zügen, darunter zahlreichen Thalys und ICE-Verbindungen, angefahren. Sein 200 Meter langes, gekurvtes Dach erhebt sich bis zu 40 Meter hoch über dem Gleisbett. Die Übergänge zwischen Innen und Außen sind fließend, denn das elegant geschwungene Gebäude aus Stahl, Glas und weißem Beton grenzt sich gegenüber seiner Umgebung nicht mit einer klassischen Außenfassade ab. Es gibt sich von allen Seiten offen und einladend.
Der französische Künstler Daniel Buren wurde jetzt eingeladen, diesen Bahnhof durch einen künstlerischen Eingriff zu transformieren. Seine das komplette Gebäudedach einbeziehende Installation trägt den Titel „Comme tombées du ciel, les couleurs in situ et en mouvement“. Genau die Hälfte der unzähligen Glaspanels hat Buren mit der Hilfe von Alpinisten und Fassadenkletterern in den letzten beiden Monaten mit selbstklebenden, farbigen Filterfolien aus Vinyl versehen lassen. Insgesamt 10.000 Quadratmeter wurden so beklebt. Der Effekt ist ebenso suggestiv wie verblüffend: Abhängig von der Intensität des Sonnenlichts, werden Bahnsteige, Züge und Passagiere in ein sich permanent veränderndes Raumgefüge voller Farbe, Licht und Reflexionen getaucht.
Die Farben Pink, Grün, Blau, Weiß und Orange wurden in Form eines gigantischen Schachbrettmusters auf das gläserne Bahnhofsdach aufgebracht. Entstanden ist zwar eine im Kern immersive Arbeit, jedoch sollte der Bahnhof keineswegs komplett in Farbe getaucht werden. Worauf es Daniel Buren ankommt, ist gerade das Wechselspiel zwischen farbigen und transparenten Zonen. 50 Prozent unbeklebte Flächen ermöglichen es den Passagieren nach wie vor, das Vorbeiziehen der Wolken ungestört zu beobachten.
Auf den Seiten des Baus sind die Farben Gelb und Rot streifenförmig angebracht. Nur diese dürften auch von den Einwohnern Lièges als kleine Reminiszenz gegenüber dem Ort der Arbeit wahrgenommen werden, denn sie korrespondieren mit den Farben auf der Fahne der gleichnamigen Provinz. Die Auswahl der fünf anderen Farben jedoch entspricht der an sich strengen, konzeptuellen Arbeitsweise des Künstlers. Es handelt sich simpel um die fünf zur Zeit auf dem Markt am einfachsten verfügbaren Farben. Auch die Abfolge der Farben ist durch nichtkünstlerische Kriterien vorgegeben. Wie schon bei anderen Arbeiten hat Daniel Buren die Farben gemäß ihren Bezeichnungen in der Landessprache von links nach rechts in alphabetischer Reihenfolge angeordnet. Würde eine Arbeit zum Beispiel in Israel oder der arabischen Welt realisiert, dann würde die Leserichtung von rechts nach links erfolgen. Die Verwendung von ortsüblichen Farben, etwa von Fußballvereinen oder ähnlichen, so betonte Daniel Buren auf der Pressekonferenz, käme für ihn niemals in Frage. Eigentlich selbstverständlich, denn derart Anekdotisches würde auch überhaupt nicht mit seinem Werkgedanken korrespondieren.
Daniel Buren zählt zu den „lebenden Legenden“ der zeitgenössischen Kunst. Er gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der Konzeptkunst. Geboren 1938 in Boulogne-Billancourt bei Paris, lebt und arbeitet er „in situ“. In den 1960er Jahren wandte sich Buren von der konventionellen Malerei ab. Seit 1967 unterhält er auch kein klassisches Atelier mehr. Alle Arbeiten entwickelt er direkt am Ort ihrer Realisierung. Von 1957 bis 1960 studierte er Skulptur und Malerei an der École des Metiers d’Art in Paris. Seine Arbeiten wurden in zahlreichen Galerien und öffentlichen Institutionen rund um den Globus gezeigt. Daniel Buren ist besonders durch seine jeweils ortsbezogenen, temporären und permanenten Arbeiten im öffentlichen Raum bekannt. Permanent installierte Werke existieren unter anderem in Paris, Tokio, Bilbao, London, La Spezia, Mexiko City, Taipei und Wolfsburg. Dreimal hat er an der Documenta in Kassel teilgenommen, elfmal an der der Biennale in Venedig. Im Jahr 1986 erhielt er den Goldenen Löwen der Biennale Venedig für den besten Länderpavillon. 2007 wurde er vom japanischen Kaiser mit dem Praemium Imperiale, dem Nobel-Preis der Künste, ausgezeichnet.
Burens Anliegen ist es, die Wahrnehmung für den Ort der Ausführung neu zu schärfen, indem Vorhandenes akzentuiert und so ein Perspektivwechsel ermöglicht wird. Zu seinen Markenzeichen gehört eine Abfolge aus gleich breiten weißen und farbigen Streifen. Spätestens seine Arbeit im Ehrenhof des Palais Royal in Paris hat Buren nicht nur in der Kunstwelt sondern auch beim breiten Publikum berühmt gemacht. Schon seit mehr als 45 Jahren entstehen Arbeiten unter Einsatz farbiger Glaselemente. Mit Beginn der 1990er Jahre setzt Buren dann transparente Farbfilter ein, die er auf Glasoberflächen von Gebäuden appliziert. Er begreift diese Arbeiten als eine erweiterte Form von Zeichnung.
Die minimalistische Vorgehensweise von Daniel Buren beruht also auf einer präzisen Analyse des „Ist-Zustandes“. Daraus wird dann ein Vorschlag für die vorübergehende Transformation des Vorhandenen abgeleitet. So schön und überwältigend sein künstlerischer Eingriff in Liège auch ist, er wird nach genau 365 Tagen beendet sein. Auch das entspricht seiner konzeptuellen Herangehensweise, aber auch seiner tiefen Bewunderung für das japanische Prinzip des Shakkei, was so viel wie „geborgte Landschaft“ bedeutet und eigentlich aus dem Garten- und Landschaftsbau stammt. Verbunden damit sind ein tiefer Respekt gegenüber dem Vorhandenen und die Bereitschaft, sich mit seiner Neu- oder Umgestaltung nach einer bestimmten Zeit auch wieder zurückzuziehen.
Auf die Einladung, in Liège eine große Installation zu realisieren, ist Daniel Buren übrigens begeistert eingegangen: „Ich war sofort überwältigt: von Weitem von dem gewaltigen Gewölbedach, das fast den Eindruck erweckt, die gesamte Innenstadt zu umhüllen, und dann, als ich näher kam, von der Schönheit des Gebäudes. Von allen Bahnhöfen, die ich kenne, gehört er zu den kürzlich gebauten, die die Tradition der frühen Tage der Eisenbahn mit prächtigen Bahnhöfen wie Antwerpen und den Pariser Hauptbahnhöfen fortsetzen. Dieser Ort ist absolut erstaunlich und einzigartig.“ Die Gesamtkosten der Arbeit von rund 600.000 Euro wurden zu mehr als 80 Prozent von privaten Sponsoren aufgebracht. Federführend ist die Uhoda Group, ein in Lüttich beheimateter Mischkonzern in den Sektoren Feinkost und Verkehr, dessen Eigentümerfamilie mit der Uhoda Collection auch eine hochkarätige Sammlung zeitgenössischer Kunst besitzt.
Die monumentale Arbeit in Liège wird mit dem Wechsel des Lichts, der Wetterverhältnisse, der Tageszeiten und der vier Jahreszeiten ständigen Veränderungen unterworfen sein. Sie ist für ein- und aussteigende Fahrgäste, städtische Flaneure, aber auch für diejenigen erlebbar, die bloß durch den Bahnhof durchfahren. Dazu Daniel Buren: „An sonnigen Tagen werden Sie Farbflecken auf dem Boden sehen, weit weg von Ihnen und ganz in Ihrer Nähe, je nachdem, wo im Bahnhof Sie sich gerade befinden. Es kann sogar dazu führen, dass diejenigen von Ihnen, die Farbe unter ihren Füßen bemerken, nach oben schauen werden.“
Daniel Buren gelingt mit dieser überwältigenden Intervention im Bahnhof Guillemins eine temporäre Rekonzeptualisierung von Raum. Vom Ort des bloßen Transits wird der Bahnhof zum Ort der umfassenden Transformation. Eine verwirklichte Utopie, die für die nächsten zwölf Monate noch einmal einen ganz neuen, erfrischenden Blick auf die Architektur des vor dreizehn Jahren eröffneten Bauwerks von Santiago Calatrava richtet.
Die Installation „Daniel Buren: Comme tombées du ciel, les couleurs in situ et en mouvement“ ist bis zum 15. Oktober 2023 rund um die Uhr im Bahnhof Liège-Guillemins zu sehen.
|