 |  | in der Ausstellung „Atelier Bauhaus, Wien. Friedl Dicker und Franz Singer“ | |
Architektur als eine Form des Denkens, Sprechen und Handelns zu verstehen, als Versuch den gemeinschaftlichen Raum sinnvoll, effizient und ästhetisch zu verstehen, zu erschließen und zu verändern, war auch vor einem Jahrhundert schon eines der dringlichsten Themen der Wohnkultur. Friedl Dicker und Franz Singer, beide prominente Schüler*innen des Bauhauses und zentrale Protagonist*innen der österreichischen Architektur- und Designgeschichte, betrachteten Gestaltung stets als eine soziale Praxis, um gleichermaßen konkrete wie radikale Lösungen für kollektive Probleme zu finden. Das Wiener Museum MUSA widmet dem architektonischen Werk und dem Mobiliar der Gestalter*innen eine Ausstellung, die größtenteils auf Wohnraumkonzepte, Möbel und Bauten aus der Zwischenkriegszeit fokussiert.
Die in Kooperation mit dem Bauhaus-Archiv in Berlin realisierte Schau vermittelt erstmals einen umfassenden Überblick über die Arbeit von Dicker und Singer; zahlreiche Objekte sind zum ersten Mal öffentlich zu sehen. Es ist ein ambitioniertes Unternehmen, umso mehr, als Friedl Dicker und Franz Singer Architekten waren, die keine Gebäude hinterlassen haben, weder große noch kleine, eine Unwiederbringlichkeit, die vor allem dem Schrecken des Nationalsozialismus geschuldet ist. Aber auch während der 1920er Jahre, der Zeit ihres Studiums am Bauhaus und des darauffolgenden projektbezogenen Arbeitsverbunds war der Output an Gebautem durchaus überschaubar. Sehenswert ist die Schau, die von einer umfangreichen, sorgsam recherchierten Publikation begleitet wird, vor allem deshalb, weil es Andreas Nierhaus, Katharina Hövelmann und Georg Schrom, den Kuratorinnen der Ausstellung, gelingt, die konzeptionelle Bedeutung der Arbeiten von Dicker und Singer herauszuschälen, auch wenn die von ihnen gestalteten Gebäude, Wohnungen und Innenräume zerstört wurden.
Friedl Dicker und Franz Singer führten in ihren Projekten und Ausführungen Ansätze weiter, die bereits in der Architektur des Roten Wiens vorhanden waren. Ihre Ideen waren jedoch weitaus radikaler: es ging ihnen nicht um Repräsentation, sondern um Multifunktionalität. Kleine Räume sollten multiplen Nutzungen zugeführt werden – eine Systematik, die wiederum einer neuen Formensprache bedurfte. Die kam vom Bauhaus in Weimar und Dessau insbesondere durch die Rezeption der De Stijl-Bewegung. Auch Farben standen im Zentrum der funktional bestimmten Ästhetik. Sie waren nicht mehr dekorativer Nebengedanke, sondern konstitutives Element für die Erschließung gebauter Räume, die auch mit knappen Mitteln und Möglichkeiten ein Maximum an Raum- und Lebensqualität bieten sollten.
Friedl Dicker und Franz Singer, die zwischen 1916 und 1919 die private Kunstschule von Johannes Itten in Wien besuchten, folgten ihrem Lehrer mit weiteren Schüler*innen 1919 ans neu gegründete Weimarer Bauhaus. Gemeinsam mit Franz Singer, mit dem Friedl Dicker für einige Jahre auch privat eine Partnerschaft einging, arbeitete sie für das Theaterensemble „Die Truppe“ von Berthold Viertel und baute die „Werkstätten bildender Kunst“ in Berlin auf. 1925 kehrte sie nach Wien zurück und gründete ein eigenes Atelier, dem sich auch Franz Singer anschloss. Gleichzeitig arbeitete Friedl Dicker für deutsche und österreichische Textilfirmen, bevor sie die Ateliergemeinschaft 1931 verließ. Kurz danach wurde sie – mittlerweile Mitglied der KPÖ – aufgrund des Vorwurfs der Passfälschung verhaftet und verurteilt. Zwei Jahre später emigrierte sie in die Tschechoslowakei. In Prag gab sie Kindern Malunterricht und erhielt kleinere Aufträge zur Inneneinrichtung.
Franz Singer emigrierte 1934 nach London, wo er als Konsulent für Kaufhauskonzerne und als freier Architekt tätig war. Nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 wurde das Wiener Büro aufgelöst. Als im selben Jahr deutsche Truppen in die Tschechoslowakei einmarschierten, zog sich Friedl Dicker gemeinsam mit ihrem Mann Pavel Brandeis nach Hronov an die Grenze zu Schlesien zurück. Nach der Errichtung des Protektorates Böhmen und Mähren wurden sie 1939 als Juden verfolgt, verloren ihre Arbeit und wurden 1942 zunächst in das Konzentrationslager Theresienstadt, Ende 1944 nach Auschwitz deportiert. Nur Pavel Brandeis überlebte den Holocaust.
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nahm Franz Singer seine Tätigkeit als Architekt und Designer wieder auf. Einer der Schwerpunkte seiner Arbeit war in diesen Jahren die bereits in Wien begonnene Beschäftigung mit kindergerechten Möbeln und pädagogisch wertvollem Spielzeug. Anfang der 1950er Jahre kehrte er für kurze Zeit nach Salzburg und später Berlin zurück, wo er im 59. Lebensjahr verstarb.
Die Ausstellung im MUSA beleuchtet vor allem die Jahre des gemeinsamen Entwerfens von Friedl Dicker und Franz Singer zwischen 1925 bis 1938 in Wien. In dieser Zeit entwickelten sie eine Reihe an Wohnprojekten, die das Wirtschaftliche mit verspielter Nonchalance auf die Spitze trieben. Das erfolgreiche Atelier, das Auftraggeber in ganz Mitteleuropa hatte, fertigte zahlreiche Wohnungseinrichtungen, Möbel und Textilien an, führte aber auch einige bemerkenswerte Bauten aus, wie das Tennisclubhaus Heller (Wien 13, Leopold-Müller-Gasse) und das Gästehaus Villa Hériot (Wien 2, Rustenschacherallee 30). Beide Projekte zeichneten sich durch eine transparente, fast schwebende Beton-Glasarchitektur aus, die Funktionalität mit höchsten ästhetischen Ansprüchen zu verbinden wusste.
Der Schwerpunkt der Tätigkeit von Franz Singer und Friedl Dicker war jedoch die Einrichtung von Geschäftslokalen und Wohnungen, wobei sie sich insbesondere auf die Konzeption von günstig herzustellenden, möglichst raumsparenden Einrichtungsgegenständen, wie Klappmöbeln und stapelbare Stühlen, konzentrierten. „Ein Wohnzimmer ist zugleich Esszimmer, oft Gastzimmer, das Schlafzimmer ist zugleich Arbeitszimmer, und alle Räume müssen für den Tagesaufenthalt zu verwenden, müssen wandelbar sein“, schrieben die beiden 1931 im „Kölner Tageblatt“. Ihre Wiener Entwürfe umfassten Podeste, in denen man Betten verschwinden lassen konnte, Wandschränke, die stapelbare Sessel verbargen, sowie funktionale Schrankräume. Singer selbst erklärte „die Ökonomie der Zeit, des Raumes und des Geldes“ zum „modernen Wohnprinzip“. Alle diese Kriterien, ergänzt durch die Farbe als gestalterisches Element, setzten sie unter Verwendung des Baukastensystems auch bei Kindermöbeln und Spielzeug um. Ihre Einrichtung des Kindergartens im Goethehof (Wien 22, Schüttaustraße) nach den Erkenntnissen der Montessori-Pädagogik gilt bis heute als Pionierarbeit auf dem Gebiet des kindergerechten Designs.
Generell blieb die Beschäftigung mit Kinderspielzeug ein zentrales Thema Franz Singers bis in die Zeit seiner Emigration in England, wo er das bereits in Weimarer Zeit entworfene „Phantasus-Spiel“ weiterentwickelte. Mit dem „Phantasus“-Baukasten und dem methodischen Schwerpunkt eines spielerischen Zugangs zur Avantgarde, aber auch der pädagogisch-reformerischen Ausrichtung der beiden Protagonisten startet und endet die Wiener Ausstellung. Der Baukasten ist ein Schlüssel zum Verständnis vieler gemeinsamer Arbeiten von Friedl Dicker und Franz Singer, der die Ideen des Ateliers geradezu idealtypisch widerspiegelt. Abstrahierte Räumlichkeit und spielerische Wandelbarkeit werden in diesem frühen Entwurf ebenso deutlich wie der Standardisierungsgedanke für Möbel und Architektur.
Den Baukasten, der nie in Produktion ging, gibt es in der Schau zum Experimentieren und Ausprobieren, nachgebaut von dem Architekten Georg Schrom, der als Nachfahre der Wiener Ateliergemeinschaft wichtiger Leihgeber von Zeichnungen, Modellen, Möbeln und ausklappbarer Axonometrie-Plänen ist. Der Anspruch der Ausstellung deckt sich mit der begleitenden Publikation, die das von Katharina Hövelmann erstellte kommentierte Werkverzeichnis mit sämtlichen bekannten Raumgestaltungen, Bauten und Theaterarbeiten beinhaltet. Beide tragen dazu bei, dem „Atelier Bauhaus, Wien“ den Stellenwert zu geben, der ihm gebührt: als dem bemerkenswert konsequenten Versuch, ausgehend von der Lehre des Bauhauses und in Auseinandersetzung mit den lokalen Traditionen, eine unverwechselbare formale Sprache für ein ästhetisches, fortschrittliches, ökonomisches und dennoch komfortables Wohnen und Alltagsleben in der Moderne zu finden. Es wird weniger nach der Autorschaft einzelner Werke oder Werkgruppen gefragt, als vielmehr der kollaborative Charakter der Arbeit betont. Hervorzuheben ist die chronologisch angelegte Präsentationsform, die Leben und Werk Dickers und Singers auch in ihrer historischen Gebundenheit darstellt.
Das letzte Kapitel skizziert die Lebenswege der beiden Protagonist*innen nach dem Ende der gemeinsamen Arbeit im Atelier: Singers Entwürfen für Siedlungshäuser in Palästina werden die politischen Collagen Friedl Dickers gegenübergestellt. In ihrem 1931/32 entstandenen Plakatentwurf verdichten sich Text und Bild in drastischer Weise zur eindeutigen und unmissverständlichen Aussage: das Bild eines neugeborenen Babys in der Mitte umgeben ausgeschnittene Zeitungsfotografien. Diese ordnen sich konzentrisch um den Säugling. Darunter sind Köpfe von Politikern wie Adolf Hitler, Massenszenen von Aufmärschen, schwangere Frauen, Kanonen, Flugzeugstaffeln und der Text: „So sieht sie aus, mein Kind, diese Welt, da wirst Du hineingeboren, da gibt es welche, zum Scheren bestellt und welche, die werden geschoren. So sieht es aus, mein Kind, in der Welt in unsern und in andern Ländern, und wenn Dir, mein Kind, diese Welt nicht gefällt, dann musst Du sie eben ändern.“ Auf einer Postkarte, die Friedl Dicker 1942 auf dem Weg nach Theresienstadt schreibt, wiederholt sie die zehn Jahre zuvor in diesem Plakatentwurf verwendeten Textteilen. 1944 wird Friedl Dicker im Konzentrationslager Auschwitz ermordet.
Die Ausstellung „Atelier Bauhaus, Wien. Friedl Dicker und Franz Singer“ ist bis zum 26. März zu sehen. Das MUSA hat täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 8 Euro, ermäßigt 6 Euro; für Kinder und Jugendliche unter 19 Jahren ist er frei. Der Katalog kostet 45 Euro. |