 |  | in der Ausstellung „Figur! Meisterwerke der Skulptur aus dem Von der Heydt-Museum“ | |
Für einen Moment hält die Balletttänzerin inne. Den Kopf in den Nacken geworfen und die Brustpartie mithilfe rückseitig stützender Arme weit vorgestreckt, wird die Quelle des Tanzes offenbar. Im beweglichen zentralen Oberkörper besitzt er seinen Ursprung. Von hier aus geht die Kraft mithilfe der Atmung auf die stämmigen Beine über. Voller Energie und Dynamik strebt die Statuette nach vorne. Kreiert zwischen 1882 und 1895 von Edgar Degas, fixiert die kleine Bronze der „Tänzerin in Ruhestellung“ einen emotionalen Augenblick, eine Entspannung in der Stille vor dem Auftritt, in der sich das Energiepotential bündelt, das dann beim Tanzen zur Entfaltung gelangt.
Wie sehr sich die Sicht auf den Menschen rund 40 Jahre später verändert hat, demonstriert der „Nackte Junge (Joseph)“ von Christoph Voll aus der Mitte der 1920er Jahre. Im Gegensatz zur Tänzerin lebensgroß und in Holz ausgeführt, spürt der Betrachter unverschleiert physische wie psychische Auszehrung, Not und Getriebenheit. Aufgewachsen im Schatten des Ersten Weltkriegs sowie dünn abgemagert, evoziert die Figur des Knaben aber auch menschliche Wärme zu einer bitteren Zeit. Das Ideal bricht Christoph Voll mit der Realität, ganz anders als etwa Oskar Schlemmer, dessen zeitlich nahebei 1919 entstandenes „Relief H“ aus Gips eine auf wesentliche geometrische Elemente reduzierte, idealisierte menschliche Erscheinung vorstellt.
Um die oft als sperrig empfundene Disziplin der Skulptur in ihrer emotionalen Tiefe erfahren zu können, erweist sich immer wieder die Präsentation bei Tageslicht als idealer Zustand. Denn Bildhauer haben ihre Werke bei Tageslicht erschaffen, und eine Skulptur etwa unter abendlichem Schimmer tritt gänzlich anders auf. Da erweis sich die Idee als Glücksfall, einen kleinen Teil aus Fundus an Skulpturen des Von der Heydt-Museums im Skulpturenpark Waldfrieden von Tony Cragg zu präsentieren. Die beiden Kuratoren Tony Cragg und Roland Mönig, Direktor des Von der Heydt-Museums, haben sich dabei ausnahmslos auf menschlich-figürliche Arbeiten aus einer Epoche konzentriert, in der die Bildhauer nach 1850 die klassischen Grundlagen der griechisch-römischen Tradition verließen und einen pluralistischen Stil einschlugen. Nicht mehr das exakte naturalistische Abbilden stand von nun an im Fokus.
Aus dem insgesamt rund 500 Skulpturen umfassenden Bestand sind rund 45 Arbeiten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er Jahre umgezogen, einige davon erstmalig überhaupt, wie beispielsweise Germaine Richiers „Gottesanbeterin“ von 1954. Hinzukommen einige im Skulpturenpark Waldfrieden aufgestellte Dauerleihgaben des Museums, etwa die „Große sitzende Gewandfigur“ von Henry Moore aus den Jahren 1957/58. Im Wechselspiel mit den Objektbeständen im Park, die vor allem bei Craggs eigenen Arbeiten oft menschliche Assoziationen wecken, im Wechselspiel mit der Natur, die durch die gläsernen Wände in die transparenten, mit Tageslicht erfüllten Ausstellungspavillons hineintritt, ergeben sich sinnige Korrespondenzen mit den Exponaten des Von der Heydt-Museums.
Dabei entfaltet das Spektrum dieser engen Auswahl bereits eine Weitläufigkeit. Frühe Arbeiten wie etwa die um 1850 geschaffene bronzene „Siegesgöttin“ von Christian Daniel Rauch verkörpern die klassizistische Position. Andere perfekt in Marmor ausgeführte, technisch und handwerklich auf hohem Niveau geschaffene Individuen inszenieren vielfach Götter, Staatsmänner oder Philosophen in einem realistischen repräsentativen Gestus. Doch trotz der werkgerechten Leistung wirken jene Arbeiten wie etwa Bernhard Afingers marmorne „Penelope“ von 1870 eher emotionsarm. Im Gegensatz zur Malerei bewegte sich die Bildhauerei erst nach 1900 von der genauen Wiedergabe der Figur weg. In der spannenden Umbruchzeit zwischen Figuration und Abstraktion musste sie nicht mehr akkurat den Menschen nachahmen.
Über das Äußere hinaus geraten nun etwa psychische Zustände in den Blickpunkt. Auguste Rodin ging es nicht um anatomische Genauigkeit, sondern um verrückte Psychologisierung der menschlichen Form, die vom Einfluss seinerzeit neuer Ideen Sigmund Freuds zeugt. Rodin hat erfasst, wie Material in die Psyche eingreifen und diese beeinflussen kann. Auf der anderen Seite wollte Aristide Maillol lediglich ästhetische Reflexe von Geometrien und Proportionen menschlicher Körper ergründen. Hans Arp umschrieb die menschliche Gestalt latent in Andeutungen und ließ sie schon weit ins pflanzlich Amorphe übergehen. Vielfach bleiben die dargestellten Personen im Spannungsfeld von Objekt und Subjekt völlig anonym. Der Blick auf den weiblichen, meist nackten Körper ist in der Auswahl in der Überzahl, mit Renée Sintenis, Käthe Kollwitz und Germaine Richier sind auch nur drei Bildhauerinnen vertreten.
Beim Hinausgehen in den weitläufigen Park begegnet man Arbeiten weiterer Künstler, unter anderem von Markus Lüpertz, Thomas Schütte oder Erwin Wurm, für die die menschliche Figur in jeweils eigener Weise relevant ist. Und am Ende entdecken die Flaneure in einer figürlichen Skulptur vielleicht sich selbst. Wie bewegt man sich, wie verändert man seine Bein- oder Armstellungen, wie ausgeprägt erscheinen einzelne Körperteile? Das spielt bei den Betrachtungen der Arbeiten eine Rolle. Es sind Botschaften, die auf die Umgebung ausstrahlen – bei uns lebenden Menschen als auch bei den Skulpturen.
Die Ausstellung „Figur! Meisterwerke der Skulptur aus dem Von der Heydt-Museum“ läuft bis zum 20. August. Der Skulpturenpark Waldfrieden hat täglich außer montags von 11 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 12 Euro, ermäßigt 9 Euro. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, der im Museum 29 Euro kostet.
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